Um die belarussische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts im Vergleich zu anderen Literaturen zu untersuchen, ist das Tertium comparationis stets neu zu definieren. Eine korrekte Gegenüberstellung des Entferntliegenden ist dazu geeignet, sowohl das Komplementäre als auch das ganz Spezifische an den Tag zu bringen und hilft außerdem die Gesetzmäßigkeiten der Rezeption von Erfahrungen belarussischen Literatur mit anderen Kulturen zu verstehen. Belegen wir dies mit einigen Beispielen.

1. Es hat den Anschein, als gebe es keine Dichter, die unterschiedlicher sein könnten als der Belarusse Janka Kupala und die Russen Aleksandr Blok und Velimir Chlebnikov. Jedoch ist das „wechselseitige Streben” zweier Literatur zueinander von großer Bedeutung, und zwar gerade im Interesse an dem, wovon in der einen („großen”) Tradition viel vorhanden ist und woran es in einen anderen („kleinen”) Literatur mangelt. Daher reagierte Janka Kupala in seiner Lyrik in den 1910er Jahre sehr originell sowohl auf den Symbolismus Bloks als auch auf das formale futuristische Experiment Chlebnikovs. (Kupala hatte damals gerade damit begonnen, seine Bücher in Petersburg herauszugeben und arbeitete auch in dieser Stadt von 1909 bis 1913). Dabei unterstrich die „experimentelle” Poesie Kupalas noch einmal verschiedene ideologische und künstlerische Prioritäten dieser Autoren, denn die belarussische und die russische Literatur durchliefen verschiedene Phasen ihrer Entwicklung.

2. In der belarussischen Literatur ist das Kriegsthema über die Maßen ausgeprägt und angereichert mit historischen und kulturellen Fakten. Maksim Harecki schrieb hervorragend über den Ersten Weltkrieg, Kuz’ma Čorny über den ersten und den zweiten, Vasil’ Bykaŭ, Ivan Navumenka, lvan Ptasnikaŭ, Ales’ Adamovic, Viktar Kaz’ko, Michas’ Stralcoŭ u. v. a. über den Zweiten Weltkrieg, wobei es sich um Vertreter unterschiedlicher Generationen handelt. Die belarussische Antikriegsprosa steht in Wechselbeziehung zu den Werken von Erich Maria Remarque, Arnold Zweig, Richard Aldington, Ernest Hemingway, William Faulkner, Irwin Shaw, Norman Mailer, James Jones, John Hersey, Kurt Vonnegut, Albert Camus, Jean-Paul Sartre u. v.a. Die humanistische Idee ist bei den belarussischen Autoren dieselbe wie bei den ausländischen. Die wesentlichen ästhetischen Präferenzen gelten dem Realismus («Riemarquismus») und dem Existenzialismus. Jedoch tritt in einer typologischen Gegenüberstellung ebenso die Spezifik der belarussischen Literatur zu Tage. Hierbei handelt es sich nicht nur um die Schilderung der faschistischen Gräueltaten im besetzten Belarus. Hinzu kommt außerdem die Sensibilisierung für die rücksichtslose Haltung der Sowjetmacht gegenüber den eigenen Soldaten und jenem Teil der Bevölkerung, welcher in besetztem Gebiet verblieb. Relevant ist auch die Tatsache, dass bezüglich der Kriegstaten zwei Betrachtungsweisen existieren – bei den belarussischen Schriftstellern in der „Metropole” sowie in der Diaspora (Kastus’ Akula, Petr Syč, Anton Adamovič). Und überdies: die Katastrophe des Krieges -Flüchtlingswellen, nicht wieder gut zu machenden Verluste, tragisches Leid, das das Schicksal des Volkes bestimmt – wird bei den belarussischen Schriftstellern (Vasil’ Bykaŭ, Viktar Karamazaŭ, Svetlana Aleksievič) mit den Folge der Havarie im Atomkraftwerk Tschernobyl (Čarnobyl’) verglichen.

3. An der Wende vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert gewannen vor allem solche auch schon zuvor bekannte intertextuelle Verfahren von Schriftstellern und in Bezug auf einzelnen Nationalliteraturen an Beliebtheit, wie die Allusion und die Paraphrase (z. B. der Roman von Vol’ha Kurtanič, „Zaljustrečča dlja Alisy”, nach Lewis Carroll), freie Imitationen (der Roman von Ales’ Astraviec „Sula” nach Plutarch) und Travestien („Starasveckija mify horada B.” von Ljudmila Rubleŭskaja nach der antiken Mythologie). Unter dem Einfluss der Globalisierung werden sich die Traditionen so oder so wandeln. Die Gegenwartsliteratur würde altmodisch wirken, wenn sie keine Rücksicht auf neuere Strömungen nähme. Das belarussische künstlerische Denken realisiert sich in solchen tendenziell nationalen Werken wie „Revizija” von Andrej Fedarenka, „Litoŭski voŭk” von Ales’ Navaryč, wobei in diese Werke reichlich versteckte Zitaten eingestreut sind und sie uns dazu verleiten (provozieren), uns selbst mit anderen zu vergleichen.

In der Literatur verhält es sich wie in der Musik mit einem Kontrapunkt: Jeder singt gleichzeitig sein eigenes Lied. Es ist wichtig, dass sich Philologen in diese unterschiedlich kulturelle, unterschiedlich nationale Musik hineinhören und darin eine ganz eigentümliche Harmonie finden; hierbei handelt es sich um jene hochinteressante Beschäftigung, die wir mit dem akademischen Namen der vergleichenden Literaturwissenschaft bezeichnen dürfen.


Друкавалася [у]: Ljudmila Sin’kova. Belarusian literature in comparison / Беларуская літаратура ў параўнальным вывучэнні // Specifics and typology of “small” literatures in eastern and western Europe by comparison / Спецыфіка і тыпалогія “малых” літаратур ва ўсходне-заходнееўрапейскім параўнанні, Oldenburg, 2011;

Сінькова Л.Д. Паміж тэкстам і дыскурсам: Беларуская літаратура ХХ – ХХІ стст. : гісторыя, кампаратывістыка і крытыка (літаратурная крытыка, артыкулы, гутаркі) / Людміла Сінькова. – Мінск : Паркус плюс, 2013. – С. 69 – 70. (296 с.)